Es ist eine sehr spezielle, aber doch auch eine Frage der Menschenwürde, mit der sich Christiane Schäfer-Winkelmann in den vergangenen Monaten befasst hat: Was lesen Dortmunder Wohnungslose? Um ebendies möglichst valide beurteilen zu können, hat sie sich mit Vertreter:innen der Zielgruppe an einen Tisch gesetzt. Zweck der Beratungen war weit mehr als reine Neugier, denn Schäfer-Winkelmann hat zusammen mit Dortmunder Buchhändler:innen, der Stadt- und Landesbibliothek sowie Verleger Werner Boschmann eine Bibliothek für das neu eröffnete Wichern-Wohnungslosenzentrum der Diakonie aufgebaut, die Wichern-Nutzer Ingo und Arbeitspädagogin Sarah Hestermann mit über 800 Büchern bestückt haben. Nach der Eröffnung des Zentrums inklusive Bibliothek am Freitag begutachteten die Beteiligten aus dem Buchmarkt am Samstag das Ergebnis ihres Engagements.
“Wat unglaublich Ästhetisches”
“Sowas Schönes habe ich für Obdachlose und Wohnungslose noch nicht gesehen”, zeigte sich Kulturdezernent Jörg Stüdemann begeistert, als er die beleuchtete Regalwand in dem mit grünen Sesseln bestückten “Wohnzimmer” sah. Und auch Bücherwand-Patin Hestermann sieht bereits eine Aufwertung des Raums durch “die reine Optik” der Bibliothek: “Man kommt hier rein und es ist gemütlich.” Eine besondere Rolle spielen in diesem Zusammenhang für Kuratorin Schäfer-Winkelmann die Brockhaus-Bände, das Literatur-Lexikon und die Suhrkamp-Edition, die die Stadt- und Landesbibliothek zur Verfügung gestellt hat: “Die haben das Ganze noch einmal optisch aufgewertet.” Passend zum Straßennamen Stollenstraße drückte es Verleger Boschmann aus: “Dat hat auch wat unglaublich Ästhetisches!”
“Eine riesige Bücherliste”
Doch hinter der schönen Fassade steckt gleichzeitig ein ausgeklügeltes Konzept. “Was interessiert Sie? Was wollen Sie lesen?”, hatte Schäfer-Winkelmann die Nutzenden des Wohnungslosenzentrums ganz direkt gefragt, “Und es entstand eine riesige Bücherliste”. Darauf fanden sich Krimis und Thriller, Atlanten und Reisebücher, Gesetzestexte und Wörterbücher in den unterschiedlichsten Sprachen. Ergänzend organisierte Schäfer-Winkelmann einige Kochbücher, um die offene Küche noch besser nutzbar zu machen und die Kochworkshops zu unterstützen, die bald in der Wohnküche des Wichern stattfinden sollen.
Bücher und andere Kulturangebote
All diese Bücher stammen aus Spendenpaketen, aber lediglich die antiken Bände der Bibliothek sind gebraucht. Unter dem Motto “Ein Buch für mich – ein Buch für dich” zog Kuratorin Schäfer-Winkelmann durch Dortmunds Buchhandlungen und warb dort für die Idee, die Kundschaft in der Vorweihnachtszeit zu motivieren, zusätzlich zum Buch für den eigenen Gebrauch ein Buch von der Bücherliste des Wichern zu kaufen. Dieses verblieb in der jeweiligen Buchhandlung, die die gespendeten Bücher sammelte und im Anschluss der neuen Bibliothek in der Stollenstraße zur Verfügung stellte. Durch die Buchhandlung LITFASS aus der Münsterstraße oder die Schweitzer Fachinformationen an der Kaiserstraße erreichten das Wichern ebenso Bücherspenden aus der näheren Umgebung wie aus der Hörder Buchhandlung transfer., der Huckarder Buchhandlung Seitenreich und der Mengeder Buchhandlung am Amtshaus. Hinzu kam eine Auswahl aus dem Ruhrgebiets-Programm des Verlags Henselowsky Boschmann. Hierzu zählen auch Bände des Dortmunder Medienkünstlers Adolf Winkelmann.
Anders als Romane eignen diese Bücher sich zum einmaligen Durchblättern. Für diejenigen jedoch, die länger an einem Text bleiben und beim nächsten Besuch weiterlesen wollen, soll es in Kürze ebenfalls eine Lösung geben. Beispielsweise wären beschriftete Lesezeichen und ein gesondertes Fach für Bücher, die sich in Benutzung befinden, denkbar, ähnlich dem Semesterapparat in Universitätsbibliotheken. Denn die Bibliothek im Wichern ist eine reine Präsenzbibliothek mit vollständigem Katalog und Stempel in jedem einzelnen Buch. Doch wie der Buchmarkt soll auch die Bibliothek mehr als nur eine Momentaufnahme sein. So denkt Kulturdezernent Stüdemann zum Beispiel an, “dass wir wirklich in den Kulturausschuss gehen und sagen, wir schaffen Bücher für diese Bibliothek an”. Doch er brachte an diesem Samstag noch eine weitere Idee mit in die Stollenstraße. Dem Wichern “ein gewisses Kontingent an Karten” für Dortmunder Kulturveranstaltungen zur Verfügung zu stellen, hält er durchaus für realistisch und stieß bei Diakonie-Geschäftsführerin Uta Schütte-Haermeyer ebenso auf Begeisterung wie bei Bücherwand-Patin Hestermann.