Es läuft die 90. Minute im EURO-Halbfinale zwischen England und den Niederlanden, und das überwiegend orange Publikum im Signal Iduna Park wappnet sich innerlich für einen halbstündigen Nachschlag. Vorschnell, wie sich herausstellt – schließlich ziehen sich Last-Minute-Tore wie ein roter Faden durchs gesamte Turniergeschehen. Als der eingewechselte Ollie Watkins dann aus spitzem Winkel Hollands Keeper Bart Verbruggen überwindet, sind – je nach Blickwinkel – Entsetzen oder Jubel auf den Rängen groß und Dortmunds Fußballtempel ist um einen dramatischen Showdown reicher.
Von denen gab es im Laufe der letzten fünf Jahrzehnte im Stadion, das 2024 sein „Goldjubiläum“ feiern durfte, so einige. Welches aber waren aus schwarzgelber Sicht die Treffer, die buchstäblich alles veränderten und die Fußball-Weichen ganz neu stellten? Wir haben Erinnerungen zusammengetragen und uns – selbstverständlich subjektiv – für diese folgenden fünf „historischen Treffer“ entschieden:
– Elli Podschwadke (2. April 1974, TBV Mengede – VfB Waltrop, Tor zum 1:0, Endstand 1:3)
Wagemutig? Naiv? Oder einfach ein bisschen gedankenlos? Über die Beweggründe kann mit einem halben Jahrhundert Abstand nur noch spekuliert werden, Tatsache aber ist, dass sich der BVB zur Eröffnung seines Westfalenstadions im April 1974 niemand anderen als den – damals deutlich stärker einzuschätzenden – blau-weißen Revierrivalen nach Hause einlud. Das Duell endete wenig überraschend mit 3:0 für die Knappen, wobei der spätere Borusse Paul Holz für den 1:0 Führungstreffer verantwortlich zeichnete. Der allererste Torschütze also ein Schalker?? Man erahnt das mulmige Gefühl der ehemaligen Verantwortlichen, als sie realisierten, was sie da offenbar angerichtet hatten. Und ebenso hört man den Wackerstein vom Herzen plumpsen, als plötzlich der erste einwandte: „Moment mal, Leute, es war doch alles ganz anders!“
Ging dem offiziellen Eröffnungsspiel seinerzeit doch ein etwas weniger offizielles voraus, und das trugen – für die Mitte der 1970er-Jahre wahrhaft exotisch – zwei Frauenteams aus. Zwar behielt auch im Match des TBV Mengede gegen den VfB Waltrop die „Mannschaft von außerhalb“ letztlich die Oberhand, viel wichtiger aber: Beim 1:3 haute die Mengederin Elli Podschwadke den Ball zur zwischenzeitlichen 1:0-Führung ins Netz. Womit sich der Schalker Makel in den schwarzgelben Geschichtsbüchern in Luft auflöst: Einmal alle aufatmen, bitte!
Von Foto-Aufnahmen dieses entscheidenden Ereignisses ist erwartungsgemäß nichts bekannt, und der Vollständigkeit halber muss angemerkt werden, dass sich die Öffentlichkeit bis heute nicht vollständig über den Namen der ersten Torschützin einig ist: Neben der leider längst verstorbenen Elli Podschwadke beansprucht auch Mengedes Margarethe Schäferhoff den Treffer für sich. BVB-Archivar Gerd Kolbe indes, schon damals mittendrin, favorisiert die „Podschwadke-Variante“, und so haben auch wir dieser Alternative den Vorzug gegeben haben. Wie dem auch sei: Treffer Nr. 1 der historischen „Top 5“ wurde als einziger also ohne schwarzgelbe Beteiligung erzielt.
– Lothar Huber (23. Juni 1976, Borussia Dortmund – 1.FC Nürnberg, Tor zum 3:2, Endstand 3:2)
Ausverkaufte Ränge waren Mitte 1976 an der Strobelallee nahezu unbekannt, und kaum ein Fan sah die Veranlassung, sich vor der Saison eine Dauerkarte zu sichern. Kein Wunder, schließlich lagen Erstliga-Zeiten des BVB bereits rund vier Jahre zurück und die hochkarätigsten Gegner hießen einstweilen Bayer Uerdingen oder Tennis Borussia Berlin.
Nach dem 3:0 gegen Schwarz-Weiß Essen am 12. Juni 1976 aber durfte der damalige Zweitligist Borussia Dortmund wieder von einer schöneren Zukunft träumen. Auf dem Weg dorthin wiederum galt es in zwei Aufstiegsduellen erst noch den 1.FC Nürnberg zu bezwingen. Mit neuem Trainer übrigens, hatte sich der bisherige BVB-Coach Horst Buhtz doch ausgerechnet mit den Franken auf ein Engagement zur neuen Saison geeinigt. Unter Otto Rehhagel holte sich die Truppe um Mirko Votava im Hinspiel am 17. Juni einen 1:0-Auswärtssieg, sechs Tage später aber zitterten ob der großen Aufgabe mitunter die Knie. Ab Nürnbergs 2:2-Ausgleich in der 79. Minute rückte der Abgrund – Stichwort Auswärtstor-Regelung – tatsächlich bedrohlich nahe. Anderthalb Minuten vor Ablauf der regulären Spielzeit dann erlöste ein Mann das Publikum auf den (diesmal vollbesetzten!) Rängen, der dem Verein auch heute immer noch aktiv verbunden ist: Als Lothar Huber aus 16 Metern einschob, geriet das Westfalenstadion außer Rand und Band: Endlich, endlich war man zurück auf der großen Bühne und konnte der Anhängerschaft wieder „erstklassige“ Kost servieren.
– Jürgen Wegmann (19. Mai 1986, Borussia Dortmund – Fortuna Köln, Tor zum 3:1, Endstand 3:1)
Annähernd zehn Jahre später, gleiche Stelle, ähnlicher Anlass – nur, dass es im Relegationsspiel gegen Fortuna Köln nicht den Aufstieg klarzumachen, sondern den Abstieg zu verhindern galt. Fehlten den Fortunen – bei aller Wertschätzung – die prominenten Namen, standen auf Borussenseite immerhin Spieler wie Marcel Raducanu, Eike Immel oder Michael Zorc auf dem Platz. Eigentlich also eine klare Sache, und exakt damit fingen die Probleme wohl an: Beim Hinspiel im Rheinland war der BVB recht sang- und klanglos mit 0:2 baden gegangen, die schwarzgelbe Fanbase aber glaubte felsenfest an einen Ausrutscher und campierte sechs Tage später teilweise stundenlang auf der Strobelallee in Erwartung der Revanche. Marcel Raducanu wiederum gab viele Jahre später zu, die Borussen seien ob der großen Verantwortung ziemlich mit den Nerven runter gewesen, und genau so präsentierten sie sich zunächst auch: Zur Halbzeit lag man vor einem ebenfalls in Schockstarre gefallenen Publikum schon wieder 0:1 und somit in der Summe mit drei Treffern hinten. In der Pause allerdings geschah etwas Merkwürdiges, das sicherlich jeden Schwarmintelligenz-Forscher entzückt hätte: Die Ränge erwachten plötzlich und peitschten – jetzt oder nie! – ihr Team mit Vehemenz nach vorne. Und auch auf dem Rasen begriff man offenbar endlich, was die Stunde geschlagen hatte. Zorc per Elfer, Raducanu mit dem beinahe einzigen Kopfballtor seiner gesamten BVB-Karriere: In der 68. Minute schien die Rettung zum Greifen nah. Die Uhr aber tickte gnadenlos runter, und Kölns Keeper Jacek Jarecki hielt, als sei er ein Oktopus. Nach 89,5 Minuten dann – von langen Nachspielzeiten hielten die Schiedsrichter seinerzeit wenig – waren ca. 50.000 Dortmund-Fans vermutlich kollektiv damit beschäftigt, zu verdrängen, dass sich da gerade der Boden vor ihnen auftat.
Knapp zehn (!) Sekunden vor dem regulären Ende haute der starke Ingo Anderbrügge noch einmal eine Verzweiflungs-Hereingabe von links vor das Fortunen-Tor. Und Jarecki, der an diesem Nachmittag bisher ausnahmslos alles weggepflückt hatte, ließ den Schuss über die Hände hoppeln! Im Rücken des Kölner Torwarts aber lauerte die Kobra, und die stolperte, während sich Zehntelsekunden zu Minuten dehnten, das Ding irgendwie über die Linie: Wahrhaft kein schöner Treffer, aber wen hätte das interessieren sollen? So laut wie in den folgenden Momenten war es im Dortmunder Stadion womöglich noch nie zuvor gewesen. Der todkranke Patient konnte plötzlich wieder laufen – dank Schlangengift!
– Ewerthon (4. Mai 2002, Borussia Dortmund – Werder Bremen, Tor zum 2:1, Endstand 2:1)
Viele, viele Jahre lang schrieben andere Clubs die großen Schlagzeilen, bis zur Jahrtausendwende aber hatte sich das Blatt gründlich gewendet: Schließlich war der BVB unter Ottmar Hitzfeld zu einem Verein geworden, der sogar dem internationalen Fußball seinen Stempel aufdrückte. Mit dem Rückzug des „Generals“ allerdings begann das schwarzgelbe Renomee wieder zu bröckeln, so dass nach einigen weniger glücklichen Trainer-Entscheidungen im Jahre 2000 Hitzfelds Musterschüler Matthias Sammer das Steuer übernahm. Dem gelang dann in seiner zweiten BVB-Spielzeit sein Meisterstück: Mit einem Pünktchen Vorsprung auf Bayer Leverkusen gingen die Borussen in ihr Duell mit Werder Bremen. Zur Halbzeit indes stand’s nur 1:1-Unentschieden, und sowohl die Konkurrenz vom Niederrhein als auch die allgegenwärtigen Münchner Bayern waren in der Live-Tabelle an Schwarzgelb vorbeigezogen. Derweil balancierte das Spiel im Westfalenstadion auf des Messers Schneide und produzierte Aluminium-Treffer auf beiden Seiten. Für die kollektive Euphorie sorgte schließlich ein Joker: Den von Landsmann Marcio Amoroso über Frank Rost gelupften Ball erwischt Ewerthon Henrique de Souza – kaum sechzig Sekunden auf dem Feld – im Rutschen und drückt ihn in der 74. Minute aus spitzem Winkel ins Netz. Als sich die Bremer kurz darauf per Platzverweis selbst dezimieren, stehen die Zeichen endgültig auf Meisterschaft Nr. 6 – und so kommt es dann bekanntlich auch. Die Leverkusener wiederum, bis zum 32. Spieltag an der Spitze, werden dem Titeltraum noch über zwei Jahrzehnte hinterherrennen – aber auch dieses Trauma ist, wie allgemein bekannt, inzwischen ja besiegt.
– Robert Lewandowski (11. April 2012, Borussia Dortmund – Bayern München, Tor zum 1:0, Endstand 1:0)
Am 30. Spieltag der Saison 2011/’12 stieg im Signal-Iduna-Park, wie Dortmunds Fußball-Tempel nun seit etwa sieben Jahren hieß, das gefühlte Endspiel der Saison. Hatten die Kontrahenten in Jürgen Klopps erstem Meisterjahr vom BVB im Grunde nur die Rücklichter gesehen, ging es diesmal merklich knapper zu. Mit einem Sieg an der Strobelallee würde Gegner Bayern München am Titelträger vorbeiziehen können, und trotz eines deutlichen Chancenplus‘ – Großkreutz, Lewandowski, Kagawa – fand der Ball einfach nicht den Weg ins Münchner Tor. Bis dann in Minute 77 doch noch der ersehnte Knoten platzte: Einem Distanzschuss von Kevin Großkreutz gab Robert Lewandowski mit der Hacke den entscheidenden Drall. Der letzte Akt des Stücks war damit allerdings noch nicht gespielt, denn nochmal mindestens genauso laut wurde es, als Arjen Robben neun Minuten später über Roman Weidenfellers Arme segelte. Den fälligen Strafstoß des Holländers schnappte sich Dortmunds Keeper, kurz darauf hatten die Schwarzgelben ein waschechtes „Sechs-Punkte-Spiel“ für sich entschieden. Nachdem Franck Ribery & Co. drei Tage später gegen den zeitweiligen Angstgegner gleich nochmal stolperten, stand dem zweiten Titel der Ära Klopp nichts mehr im Wege. Dem bekanntermaßen einen Monat später noch ein fulminanter dritter folgte, aber das ist schon wieder eine eigene Geschichte.