Ganz ausblenden kann und will man ihn in solch einem Interview nicht, den 28. Mai 1997. Wo waren Sie, als Lars Ricken „das“ Tor schoss?
Fast 22 Jahre später allerdings, in die aus Vereinssicht eine Fast-Insolvenz, aber auch fünf weitere nationale Titel fielen, hat der 41-Jährige in seinem Büro am Rheinlanddamm die Gegenwart fest im Visier. Als Jugend-Koordinator obliegt ihm die Aufgabe, die Nachwuchsabteilung des Clubs konkurrenzfähig zu halten und in ihrer Funktion als Talentschmiede der „Ersten“ weiterhin zu fördern. Wobei auf diesem Gipfel heutzutage mitunter ein eisiger Wind wehen kann. Über berufliche Herausforderungen, harte Trainingsanforderungen, die eigenen heutigen Sport-Ambitionen sowie – natürlich – einen Mittwoch im Mai gab uns der „Dortmunder Junge“ zwei Wochen vor dem Beginn der Rückrunde Auskunft.
REDAKTION: Ich bin neugierig: Wie häufig wird Lars Ricken heutzutage in Dortmund noch auf München ‘97 angesprochen? Ich würde mich nicht wundern, wenn das immer noch täglich der Fall wäre.
LARS RICKEN: Würde ich mich jeden Tag in der City aufhalten, wäre es vielleicht immer noch täglich so! Wobei man heute natürlich nicht mehr nach Autogrammen gefragt wird, sondern nach Selfies. Vor wenigen Tagen bin ich im Café in der City noch um ein Selfie gebeten worden, es gibt also tatsächlich noch Zeitzeugen (lacht). Und in meiner Hauspost findet sich im Schnitt pro Tag auch noch etwa ein Autogrammwunsch.
Eher selten wollen die Menschen mittlerweile von meinen Erinnerungen an den Abend hören – wahrscheinlich, weil darüber fast alle im Laufe der Jahre schon etwas gelesen und das Spiel ohnehin live gesehen haben. Viel häufiger passiert’s da, dass sie mir ihre persönliche Geschichte des Abends erzählen. Das reicht von „Klassikern“ – mal eben Bier holen gewesen, und ausgerechnet da macht der Kerl dieses Tor! – bis zu den Leuten, die an diesem Tag zwei Wellensittiche geschenkt bekamen und sie dann „Kalle“ und „Lars“ nannten. Oder dem Mann auf dem Friedensplatz, der beim Torjubel einer wildfremden Frau in die Arme fällt und sich in sie verliebt. Die beiden haben dann tatsächlich geheiratet und ihren Sohn Lars getauft!
REDAKTION: Gibt’s eigentlich zu den Mannschaftskollegen von damals noch Kontakt? Sieht man sich gelegentlich privat?
LARS RICKEN: Kontakt besteht offensichtlich noch, wie man sich denken kann, zu Michael Zorc – der ist ja jetzt immerhin mein Chef (lacht)! Ansonsten telefoniere ich zwar mit niemandem aus dem damaligen Team regelmäßig, aber wenn wir uns irgendwo über den Weg laufen, gibt’s immer ein großes „Hallo“. Matthias Sammer sehe ich, seitdem er den BVB berät, erfreulicherweise häufiger. Und mit Kalle Riedle – der ja Botschafter des Vereins ist – bin ich im „Jubiläumsjahr“ 2017 gemeinsam nach Asien geflogen, um unsere Internationalisierungsstrategie zu unterstützen. Das hat großen Spaß gemacht, weil Kalle einfach ein unkomplizierter, netter Typ ist.
Aber insgesamt muss man natürlich auch bedenken: Ich war 19 damals, und fast alle anderen um die 30 – da waren unsere Interessen naturgemäß unterschiedlich, und der Kontakt zu meinen Mannschaftskollegen von daher etwas weniger eng.
REDAKTION: Springen wir mal in die Gegenwart: Kann man sagen, dass ein Jugendkoordinator für den Nachwuchs des Vereins das ist, was Sebastian Kehl für den Lizenzspielerbereich darstellt: Eine Art Bindeglied zwischen Nachwuchsabteilung und der Managementebene?
LARS RICKEN: Stimmt, das ist ein Teil meiner Arbeit. Aber passender wäre es dann vielleicht zu sagen, meine Tätigkeit ähnelt der, die Michael Zorc im Lizenzspielerbereich wahrnimmt. Es gibt also – angenehmerweise – etliche unterschiedliche Aufgaben, aber die zeitintensivsten sind womöglich die Vertragsgespräche. Ab der U15 können Verträge mit den Jugendlichen abgeschlossen werden, und häufig müssen sie das dann auch, wenn Borussia Dortmund sich die Dienste der jeweiligen Spieler sichern möchte. Denn für den Verein ist es in dem Zusammenhang natürlich wichtig, die Jugendlichen nach Möglichkeit nicht für einen anderen Club auszubilden. Talentierte 15-Jährige haben heutzutage allerdings in der Regel alle einen Berater, entsprechend komplexer sind die notwendigen Gespräche. Ein weiterer wichtiger Punkt sind Transferverhandlungen mit anderen Vereinen.
REDAKTION: Das Scouting der Clubs setzt, wie gerade schon anklang, immer früher an. Ab welchem Alter muss ein Verein wie der BVB Talente auf seinem Radar erkennen?
LARS RICKEN: Klar, es wird immer wichtiger – und ist auch unser Anspruch – die Top-Talente früh zu Borussia Dortmund zu holen. Wir glauben, dass wir den Jungs hier perfekte Ausbildungsbedingungen bieten können, und fangen mit dem entsprechenden Sichten letztlich schon in der U9 an. Europaweit sehen wir uns etwa ab der U16 um, aber für die Jüngeren gibt es beispielsweise den „Tag der Talente“, an welchem wir begabte Nachwuchskicker aus einem Umkreis von etwa 30 km bei uns zu Gast haben, um daraus unsere jungen Teams zu formen. Und natürlich sind wir auch bei Spielen und Turnieren der Umgebung unterwegs und halten die Augen offen. Je älter die Spieler dann werden, umso größer wird unser Einzugsbereich.
REDAKTION: Sind Sie denn dann gelegentlich auch selbst vor Ort, um zu scouten?
LARS RICKEN: Beim „Tag der Talente“ lasse ich mich durchaus auch sehen, nehme aber eher repräsentative Aufgaben wahr. Das eigentliche Sichten übernehmen unsere Trainer und Scouts, die dort alle mit von der Partie sind.
REDAKTION: Welches sind denn, unterm Strich, die kniffligsten Herausforderungen Ihrer Tätigkeit?
LARS RICKEN: Als ich vor rund zehn Jahren meine Arbeit aufnahm, war Schalke 04 beim Verpflichten der Talente unser großer Konkurrent. Inzwischen kannst du, wenn du dich um einen begabten U16-Spieler bemühst, davon ausgehen, dass ihn die englischen Vereine auch im Visier haben. Und auch national sind die Clubs in dieser Hinsicht viel ambitionierter geworden. Von Bayern München über Leipzig, Hoffenheim, Stuttgart usw. sitzen in der Regel alle mit im Boot. Zusätzlich hast du hier in Nordrhein-Westfalen ja grundsätzlich schon eine ziemlich hohe Konkurrenzdichte. Das hat die Aufgabe, einen Spieler vom BVB zu überzeugen, über die Jahre schon anspruchsvoller werden lassen.
REDAKTION: Ist es im selben Zug auch schwieriger geworden, beiden Seiten gerecht zu werden? Dem Verein frühzeitig die größten Talente zu sichern, ohne dass diese entweder überfordert werden oder aber schnell die Bodenhaftung verlieren?
LARS RICKEN: Schwierig kann das durchaus sein, es ist aber natürlich auch reizvoll und lohnenswert. Dabei ist es meine Philosophie, unsere eigenen Stärken und Vorteile zu unterstreichen und nicht etwa die Konkurrenz schlechtzureden – denn die macht schließlich auch gute Arbeit.
Andererseits verzichten wir auch durchaus auf eine Verpflichtung, wenn der Spieler uns für die anstehenden Belastungen noch nicht gewappnet erscheint, da haben wir in jedem Fall eine soziale Verantwortung. Auch aus diesem Grunde nehmen wir Nachwuchsspieler aus dem Ausland nur unter Vertrag, wenn wir für sie eine klare Profiperspektive sehen, und verpflichten nicht – wie hier und da zu finden – zehn Jugendliche in dem Bewusstsein, dass es zumindest einer von ihnen schon irgendwie bis in den Bundesligakader schaffen dürfte.
REDAKTION: Auf welche Faktoren muss beim Sichten also das Augenmerk liegen?
LARS RICKEN: Schnelligkeit ist mittlerweile ein immens wichtiges Kriterium, auch die technischen Fähigkeiten müssen selbstverständlich schon sehr gut entwickelt sein. Das taktische Verständnis können und sollen dann unsere Trainer den Jungs vermitteln. Ein ganz entscheidender Schlüssel allerdings ist die Mentalität. Unsere Jungs müssen im Grunde schon sehr früh ziemlich erwachsen, sehr diszipliniert und fokussiert sein, denn im Grunde haben sie zwei volle Jobs: Sie sind Fußballer und Schüler. So ein Tagesablauf beginnt um etwa 6:30 Uhr, zieht sich schulisch in Zeiten von „G8“ bis in den Nachmittag, und danach steht noch Training an. Da bist du dann fünfmal pro Woche um 21 Uhr abends wieder zu Hause, und am Wochenende steht zudem noch das Spiel an. Wer da nicht sehr zielorientiert und eine gefestigte Persönlichkeit ist, der hat es wirklich schwer.
REDAKTION: Könnte man beziffern, wie viele Stunden ein U17-Spieler wöchentlich in seine Karriere investieren muss?
LARS RICKEN: Es fällt mir schwer, das zu benennen, zumal sich zu den Trainings- und Spielzeiten noch die Anfahrten addieren. In der Summe kommt man jedenfalls mit einer 40-Stunden-Woche eindeutig nicht hin. Und bei der U19 ist die Situation sogar noch extremer, da haben wir in der Hinrunde so viele Spiele wie mit der U17 in der kompletten Saison. Weil es mittlerweile nicht nur die A-Junioren-Bundesliga und einen DFB-Pokal gibt, sondern auch die Youth League. Dazu kommen dann noch Nationalmannschaft, Westfalenauswahl usw. Die Youth League bringt in der Regel einiges an Reisestrapazen mit sich, für gewöhnlich sind wir zweieinhalb Tage unterwegs. Eines der Spiele hatten wir vor zwei Jahren in Israel: Am Montagmorgen hingeflogen, Mittwoch um kurz vor Mitternacht wieder in Brackel am Trainingsgelände gewesen. Als Profi darfst du dann zumeist am anderen Tag ausschlafen, und das Training beginnt um 16 Uhr. Für unsere Jungs klingelt am nächsten Morgen wieder der Wecker.
REDAKTION: Ist es denn trotz aller Widrigkeiten für einen 12-jährigen Dortmunder Straßenfußballer immer noch ein realisierbarer Traum, beim BVB einen Fuß in die Tür zu bekommen?
LARS RICKEN: Straßenfußballer gibt’s nur noch sehr selten. Aber abgesehen davon: Na klar! Wobei man im Falle von einem 12-Jährigen selbstverständlich noch keine seriöse Prognose wagen kann, was aus den Karriereträumen werden könnte, denn im angesprochenen Alter ist die weitere Entwicklung noch komplett offen.
Einem Eindruck muss ich allerdings klar entgegentreten: Dem, dass ein Jugendfußballer, bei dem es letztlich nicht mit der ganz großen Profikarriere geklappt hat, ,gescheitert’ wäre. Manch ein Weg führt vielleicht nicht bis ins Lizenzspielerteam von Borussia Dortmund, sondern – beispielsweise – in die 2. Bundesliga. Gleichzeitig aber ist dem Spieler bewusst, aus seinen Fähigkeiten das Optimum gemacht zu haben: In solch einem Falle kann man sicherlich nicht von ,Scheitern’ reden. Und auch jenseits der Erfolge gibt dir der Fußball schließlich so viel für dein weiteres Leben mit: Du erwirbst Werte wie Teamfähigkeit, Respekt, Widerstandsfähigkeit, lernst außerdem viel von der Welt kennen. Unser Anspruch ist es, die Jugendlichen so zu entwickeln, dass sie auch in allen anderen Lebensbereichen erfolgreich sein können – nicht nur im Fußball.
REDAKTION: Werden Sie als Dortmunder sentimental bei dem Gedanken, die Borussen könnten mal wieder den neuen Michael Zorc, den neuen Lars Ricken, den neuen Kevin Großkreutz hervorbringen?
LARS RICKEN: Sicher ist es uns und mir wichtig, „Dortmunder Jungs“ zu entwickeln. Allerdings muss man vielleicht nicht, wie in meinem Falle, zwangsläufig in Dortmund geboren sein, um in diese Kategorie zu gehören. Bei jemandem wie Kevin Großkreutz mag die Identifikation der Fans noch etwas stärker ausfallen, aber auch Spieler wie Jacob (Bruun Larsen – die Red.) oder Christian (Pulisic – die Red.) werden, da sie unsere Akademie durchlaufen haben, von unseren Fans im Grunde als „Dortmunder Jungs“ wahrgenommen. Immerhin haben wir mit Dzenis Burnic, Mario Götze, Marco Reus, Marcel Schmelzer und den beiden genannten momentan sechs Spieler im Kader, die aus der eigenen Jugendabteilung kommen. Das ist für einen Club, der zu den zehn stärksten in Europa gehört, sicherlich keine schlechte Bilanz – bei den restlichen neun wird man das, denke ich, so nicht finden.
REDAKTION: Anknüpfend an die letzte Frage: Kann es beim BVB noch eine Zukunft für Felix Passlack geben?
LARS RICKEN: Felix ist ja derzeit nur ausgeliehen, und war ein Nachwuchsspieler, wie man ihn sich nicht besser wünschen konnte. Die Entwicklung der letzten zwei Jahre – zunächst in Hoffenheim, jetzt in England – ist von daher natürlich ein bisschen schade. Aber vielleicht muss man manchen Entwicklungen auch einfach etwas Zeit geben. Warten wir also ab, wie sich die Situation nach Ende seiner Leihe darstellt. Es kann durchaus sein, dass Felix dann zum BVB zurückkommt. Und falls das so sein sollte, werden wir weiter daran arbeiten, aus ihm den bestmöglichen Fußballer zu machen.
REDAKTION: Gibt es aktuell Nachwuchsspieler, von denen Sie sich gut vorstellen können, dass sie innerhalb der nächsten ein, zwei Jahre von sich reden machen?
LARS RICKEN: Mit Sicherheit, allerdings tun wir uns hier alle ein wenig schwer damit, Namen zu nennen, da wir den betreffenden Spielern keinen Rucksack an die Schultern hängen wollen. Man bedenke aber, dass derzeit alle unsere Mannschaften von der U14 bis zur U19 auf Platz 1 ihrer Tabellen rangieren, insofern sollte hiervon das eine oder andere Top-Talent durchaus seinen Weg in den Profi-Fußball finden!
REDAKTION: Dann gibt’s zum Schluss nochmal eine „persönliche“ Frage: Wann hat Lars Ricken eigentlich zum letzten Mal gegen den Ball getreten? Findet sich dafür überhaupt noch Zeit?
LARS RICKEN: Das letzte Mal war gestern, als ich mit meinem einjährigen Sohn gespielt habe. Ansonsten würde da, wenn ich wollte, von Zeit zu Zeit durchaus noch etwas gehen, weil ja immer wieder ein Spiel unserer „Legenden-Mannschaft“, ein Abschiedsspiel usw. stattfinden. So richtig Spaß macht’s allerdings nicht mehr, weil du natürlich einen gewissen Anspruch an dich hast, den aber überhaupt nicht mehr erfüllen kannst. Du kannst nicht mehr umsetzen, was du dir im Kopf zurechtlegst, und hinterher tut dir alles weh.
Gerade mal zwei Monate nach dem Ende meiner aktiven Laufbahn etwa hab‘ ich nochmal bei der 2. Mannschaft mittrainiert; auf dem Programm stand 5 gegen 2: Da spielten die mir den Ball nach Belieben durch die Beine! So habe ich’s relativ schnell wieder sein lassen, weil ich mich als Nachwuchskoordinator nicht so gerne von meinen Jungs veräppeln lassen wollte.
Bei den Legenden- und Abschiedsspielen wiederum sieht man zwar viele alten Kollegen inklusive der Brasilianer wieder, und das ist natürlich jedes Mal nett. Aber was den Faktor Ehrgeiz angeht: Im Grunde gibt’s fast bei jedem dieser Events einen „Schwerverletzten“. Achillessehnenriss, Nasenbeinbruch – da ist alles dabei! Insofern mische ich zwar noch gerne locker mit, aber ich sehne mich nicht unbedingt danach. Zumal ich im Rückblick einfach dankbar für meine Karriere bin, so wie ich sie haben durfte!
REDAKTION: Vielen Dank, Herr Ricken, für dieses ausführliche Gespräch!