Als „Klinsi“ 2004 nicht nur die geltenden Trainingsstandards in Frage stellte, sondern zudem noch einen Sportpsychologen in seinen Beraterstab integrierte, wurde das mancherorts als Schrulligkeit, wenn nicht gar Selbstüberschätzung angesehen. In diesem Falle aber sollte die Geschichte dem einstigen Torjäger vollumfänglich Recht geben: Zwei Dekaden später wäre etwa ein Fußball-Bundesligist, der seinen Spielern keine sportpsychologische Betreuung zur Seite stellt, absolut undenkbar. Und längst sind es nicht mehr nur die Profiteams der Senioren, bei denen neben dem Körper auch der Kopf trainiert wird.
Beim BVB widmet sich Borussias ehemaliger Torwart Dr. Philipp Laux seit Mai 2020 dieser Aufgabe im Lizenzspielerbereich, während Dipl.-Psych. Martin Kempa 2009 den Juniorenbereich unter seine Fittiche genommen hat.
Im Gespräch mit unserer Redaktion erzählte der Diplom-Psychologe von Herangehensweisen, Nutzen und den Herausforderungen der modernen Sportpsychologie.
Redaktion: Sportpsychologie ist im Laufe der letzten anderthalb Jahrzehnte verstärkt in den Fokus gerückt. Hat sich vor allem das gesellschaftliche Ansehen geändert, oder ist auch der Bedarf gestiegen?
Martin Kempa: Ein zentraler Unterschied ist, dass die Psychotherapie genau wie die Sportpsychologie früher wesentlich defizitorientierter war.Im letzten Jahrzehnt wird sie dagegen vielmehr als leistungsstabilisierend, leistungsoptimierend und als grundsätzlicher Bestandteil des Leistungssports verstanden. Insofern ist die Offenheit also größer geworden, wobei sie das in anderen Sportarten vielleicht auch vorher schon war. Im Fußball ist es ja eigentlich 2006 mit Hans-Dieter Hermann unter Bundestrainer Jürgen Klinsmann das erste Mal so richtig losgegangen, mittlerweile aber hat man quasi aufgeschlossen.
Redaktion: Welche psychischen Faktoren behindern denn im Sport den Erfolg, welche fördern ihn? Und in welcher Weise können Sie darauf einwirken?
Martin Kempa: Zunächst versuchen wir, einen Sportler bzw. eine Sportlerin ganzheitlich zu sehen. Leistungsfördernd kann also sein, sich anzusehen: Wie sieht das private Umfeld aus? Fühlt sich die Person dort wohl? Bei unserem Nachwuchs stellt sich beispielsweise auch die Frage, ob sie schulischen Druck haben oder womöglich das erste Mal von ihrer Familie losgelöst sind und unter Heimweh leiden. Bei internationalen Spielern geht es außerdem auch darum, frühestmöglich eine Sprachbarriere zu überwinden.
Haben wir dann das Ganzheitliche gut eingebettet, geht es darum, mit Drucksituationen bestmöglich umzugehen. Da sind ganz klassische Komponenten:
– Aktivierungsregulation: Wie ist mein Umgang mit An- und Entspannung? Wie gut schalte ich nach dem Spiel ab? Wie gehe ich mit Pausen um?
– Selbstgesprächsregulation: Wann sind innere Gespräche positiv und wann negativ? Und wie gestalte ich die?
Wichtig ist zudem noch, wie mit Zielsetzungen umgegangen wird: Arbeite ich nur mit Ergebniszielen oder auch mit Handlungszielen? Ist mir also auch die Art und Weise wichtig, wie ich mich auf dem Platz präsentiere?
Und schließlich sind auch Visualisierungen noch eine wichtige Komponente: Wie gut nutze ich meine Möglichkeiten, um durch das Vorstellen bestimmter Szenen gewissermaßen eine Art Trampelpfad im Gehirn anzulegen? Ein griffiges Beispiel aus dem Fußball ist hier wohl der Eckstoß: Zunächst erstellt man sich den perfekten Bewegungsablauf – Wieviele Schritte brauche ich zum Anlauf? Wo ist der Körperschwerpunkt? Wie ist die Dynamik in der Schrittfolge? –, dann arbeitet man mit sogenannten Knotenpunkten, mit denen festgelegt wird, worauf besonders geachtet werden muss. Bekommt man all dies hin, hilft man dem Sportler, sich entweder aus der „Fernseh“- oder aus der Innenperspektive die besagte Bewegung immer wieder vorzustellen: Naturwissenschaftlich ist nämlich belegt, dass sich etwa 60 bis 70 % der aktiven Hirnregionen in Visualisierung und tatsächlicher Ausführung überschneiden. So muss der Sportler dann im optimalen Falle gar nicht mehr über die perfekte Ecke nachdenken, weil er sie „weiß“.
Redaktion: Welche Möglichkeiten hat denn ein Sportpsychologe, für bessere Rahmenbedingungen des Sportlers zu sorgen? Sind das nicht „dicke Bretter“?
Martin Kempa: Wir wollen zunächst herausfinden, was das betreffende „Brett“ ist. Es geht also vor allem darum, zu verstehen, wann er sich wohlfühlt, ob er von sozialen Kontakten profitiert, welche Ressourcen er womöglich abseits des Fußballplatzes hat usw. – und die entsprechenden Möglichkeiten dann herzustellen. Es ist halt wie bei jedem von uns: Ist unser Akku voll oder annähernd voll, sind wir leistungsfähiger.
Redaktion: Haben sich denn die zu behandelnden Themen im Laufe der letzten Jahre verändert bzw. entwickelt?
Martin Kempa: Die Themen sind stark davon abhängig, wie lange ich schon mit einem Spieler arbeite. Ich kann selbstverständlich viel tiefer gehen, viel detaillierter arbeiten, wenn ich einen Spieler schon eine längere Zeit kenne. Ein weiterer Faktor sind neue forschungstechnische Ansätze. Und dann gibt es natürlich über die Jahre wahrnehmbare Unterschiede in den Rahmenbedingungen, augenfälligstes Beispiel ist die Digitalisierung: Früher gab’s keine oder wenige Smartphones im Team, heute haben sie alle eins zur Verfügung: Entsprechend ist die Aufmerksamkeitsspanne eine andere, und das Miteinander ist es auch. Generationseffekte sind halt nicht nur in der Arbeitswelt ein Thema, sondern natürlich auch bei unseren Jungs.
Redaktion: Können Sie an einem – abstrakten – Beispiel noch ein wenig illustrieren, welche Veränderung Sie bei Sportlern in Gang setzen können?
Martin Kempa: Naja, ein wichtiger Punkt ist eben, dass man zu „blaupausenhafte“ Lösungen vermeiden sollte. Um kurz auf meinen anderen Tätigkeitsbereich, die Psychotherapie, zu blicken: Wenn Sie zehn Menschen behandeln, die eine Depression haben, hat aber doch jeder von ihnen andere Beweggründe und eine unterschiedliche Geschichte – und dem entsprechend gilt es miteinander auch unterschiedliche Lösungen zu erarbeiten.
Ähnlich ist es beim Sportler: Es ist extrem wichtig, am Anfang Zeit in sorgsame Wahrnehmung zu investieren. Gibt es im Umfeld Schwierigkeiten? Dann geht es womöglich darum, zu unterstützen, bis der Spieler sich wohlfühlt. Oder ist extreme Nervösität vor dem Spiel das Problem? Dann könnte man versuchen, ihm mit Entspannungsübungen oder Visualisierungen weiterzuhelfen. Setzt sich der Sportler aufgrund der ersten Fehlaktion im Spiel selbst zu sehr unter Druck? Dann ist der Ansatz womöglich, diesen Abläufen in Form von Selbstgesprächen auf die Spur zu kommen. Wir könnten uns also beliebige individuelle Situationen ansehen, und immer wäre genau das wichtig: Den Menschen und seine individuelle Situation zu betrachten, um die Ursachen der Schwierigkeiten herauszuarbeiten. Sich Zeit nehmen für die Analyse, anstatt den Sportler womöglich zu sanktionieren und ihm ein Feedback a la „Das muss besser werden!“ geben, wovon kein Spieler etwas hat. Was allerdings heutzutage auch kaum noch ein Trainer macht.
Redaktion: Gibt es im Sport aus Ihrer Sicht mittlerweile eigentlich einen optimalen Grad an psychologischer Betreuung? Was wäre diesbezüglich Ihre Wunschvorstellung?
Martin Kempa: Was mich persönlich angeht, fühle ich mich mit der aktuellen Situation rundum wohl. Und auch gesellschaftlich gibt es Grund zur Zufriedenheit, Fußball-Nachwuchsleistungszentren beispielsweise sind inzwischen verpflichtet, Sportpsychologen zu beschäftigen. Und auch die neuen Trainer-und Spielergenerationen sind sehr offen in Bezug auf das Thema. Hat man früher auf Trainerseminaren danach gefragt, wer dem Kopf im Spitzensport eine große Bedeutung zumisst, hoben sich zwar auch schon alle Hände – aber bis zur Etablierung der Sportpsychologie hat es dann noch eine Weile gedauert.
Redaktion: Vielen Dank, Herr Kempa, dass Sie sich Zeit für uns genommen haben!