In Westfalen-Lippe sind im vergangenen Coronajahr die Verdachtsfälle auf einen Behandlungsfehler deutlich zurückgegangen. Eine Auswertung der AOK NORDWEST bei ihren Versicherten hat ergeben, dass in 626 Fällen ein Verdacht geäußert und weiterverfolgt wurde. In den beiden Jahren zuvor waren es noch 807 Fälle (2019) und 768 Fälle (2018). Der Rückgang ist vor allem auf die Corona-Pandemie zurückführen.
„Insbesondere in der ersten Hochphase der Pandemie mussten zahlreiche operative Eingriffe verschoben werden, die nur vereinzelt nachgeholt wurden“, sagt Tom Ackermann, Vorstandsvorsitzender der AOK NORDWEST. Der AOK-Chef wies darauf hin, dass nach wie vor viele Patientinnen und Patienten Schwierigkeiten bei der Durchsetzung ihrer Rechte hätten, wenn sie einen Behandlungsfehler oder einen Schaden durch ein fehlerhaftes Medizinprodukt oder ein Arzneimittel vermuten. „Hier ist die neue Bundesregierung gefordert, das Patientenrechtegesetz von 2013 endlich im Sinne der Patientinnen und Patienten konsequent weiterzuentwickeln.“
Rund 2.200 AOK-Versicherte in Westfalen-Lippe haben allein in den letzten drei Jahren den Verdacht auf einen Behandlungsfehler bei ihrer Krankenkasse vorgetragen. Hier hilft die AOK ihren Versicherten mit einer fachkundigen Beratung durch Experten und Medizinern. „Damit stärken wir die Rechte der Patienten und profilieren uns als Anwalt unserer Versicherten“, so Ackermann.
Die AOK-Experten fordern zum Beispiel Behandlungsunterlagen an, koordinieren externe Gutachten und bewerten diese, fertigen selbst welche an und stellen diese den Versicherten kostenfrei zur Verfügung. In rund 80 Prozent der Fälle wird kein beweisbarer Medizinschaden festgestellt oder es handelt sich um einen unberechtigten Vorwurf. Hier unterstützt die AOK die Ärzte oder sonstigen Behandler bei der Aufklärung der Patienten. In rund 20 Prozent der Fälle handelt es sich jedoch um einen Behandlungsfehler.
Wenn Vergleichsverhandlungen der AOK mit den Haftpflichtversicherern scheitern, wird der Klageweg beschritten. Dabei darf die AOK nur ihre eigenen Ansprüche geltend machen. Anfallende Anwalts- oder Prozesskosten für ihre Kunden darf die AOK nicht übernehmen. „Allerdings können unsere Versicherten auf die Beweislage im Regressprozess der AOK NORDWEST zurückgreifen und auf diesem Weg ihr Prozesskostenrisiko minimieren“, so Ackermann. Allein in den vergangenen drei Jahren hat die AOK NORDWEST gerichtlich oder im Vergleich mit Haftpflichtversichern insgesamt über 8,75 Millionen Euro erfolgreich durchgesetzt.
Vor allem in den operativen Fachrichtungen wie Chirurgie, Orthopädie und Gynäkologie aber auch in der Zahnheilkunde wird häufig der Verdacht auf einen Behandlungsfehler geäußert. „Hier sind mögliche Fehler für die Versicherten eher ersichtlich. Doch häufig entstehen Medizinschäden nur deshalb, weil auf eine ohne Verschulden eingetretene Komplikation nicht richtig oder nicht rechtzeitig reagiert wird“, so der AOK-Chef.
In diesem Zusammenhang fordert Ackermann eine Erleichterung beim Nachweis der Kausalität zwischen einem Behandlungsfehler und dem entstandenen Schaden. Dieser Nachweis ist für Patientinnen und Patienten oft nur schwer zu erbringen. Deshalb schrecken viele Betroffene davor zurück, ihre eigenen Ansprüche geltend zu machen oder gar vor Gericht einzuklagen. „Diese juristische Schwelle muss abgesenkt werden“, so Ackermann.
Außerdem forderte der AOK-Chef Sanktionen für Leistungserbringer, die den Patientinnen und Patienten die Einsicht in ihre Behandlungsakte grundlos verweigern, die Entlastung der Versicherten von oft unangemessen hohen Kosten für Kopien aus der Patientenakte sowie Klarstellungen zum Einsichtsrecht der Krankenkassen in die Behandlungsunterlagen Verstorbener. Eine weitere Forderung ist, Patienten künftig auch im Falle von Schäden, die durch fehlerhafte Medizinprodukte entstehen, zu unterstützen.
Insgesamt gilt es aus Sicht Ackermanns, Behandlungs- und Pflegefehler sowie kritische Ereignisse noch stärker als bisher als Quelle von Lernprozessen zu nutzen. „Dazu braucht es einen optimierten Zugang zu Verdachts- und Schadensfällen und eine offene Fehlerkultur in allen Einrichtungen des Gesundheitswesens.“