Es wirkt „wie ein brutaler Copy-Paste-Moment“, wenn sich der „komplett geweißelte Hannibal-Nachbau“ innerhalb der Glasarchitektur der Räumlichkeiten des Kunstvereins an der Rheinischen Straße 1 in die Höhe reckt, findet Rebekka Seubert. Die Kuratorin der aktuellen Ausstellung zeigt sich erfreut: Nachdem Robert Fernsy als Leiter des Technischen Aufbaus „noch eine Nachtschicht eingelegt hat, sind wir bezugsfertig“. Der Hannibal II steht und um ihn herum stehen, hängen, sitzen die, die hier wohnen: Latefa Wierschs Puppen aus den verschiedensten Materialien.
Die „Utopie“ vom gemeinsamen Leben
Als der Hannibal im Jahr 1976 eröffnet wurde, „steckte da ein gewisses gesellschaftliches Ideal drin“, so Kuratorin Seubert. Mit Sozialwohnungen und Wohnungen, die auf dem freien Markt zur Miete angeboten wurden, wollte man die Menschen zusammenbringen. Latefa Wierschs Mutter gehörte damals zu den ersten, die das Hochhaus am Vogelpothsweg bezogen. Zunächst sei sie begeistert gewesen, berichtet Rebekka Seubert aus den Gesprächen mit der Künstlerin, das Zusammenleben unterschiedlicher Generationen glich einer „Utopie“. Damals zog man in der Erwartung einer Ladenzeile und einer Diskothek im Erdgeschoss ein, doch „diese Elemente des Sozialen“, so Seubert, kamen nie zur Umsetzung. Vielmehr zog man sich laut der Künstlerin in die eigene Wohnung mit dem sehr geräumigen Balkon zurück: „Ich habe eine Erinnerung von großer Anonymität.“
Latefa Wiersch selbst nämlich wuchs in den 1980er- und 1990er-Jahren im Hannibal II auf. Ihr sind vor allem die Menschen, die um sie herum lebten, im Gedächtnis geblieben: „Die Leute fühlten sich abgehängt und nicht als Teil dieser Gesellschaft.“ Die soziale Misere kulminierte, als die Stadt das Hochhaus im Jahr 2017 wegen Brandschutzmängeln evakuierte. Rund 500 von 750 Bewohnenden bezogen damals Sozialhilfe.
Puppen als Träume zwischen Leben und Tod
Bis heute steht das Gebäude leer, eine Sanierung hat aber im Frühjahr 2024 begonnen. Kuratorin Seubert hatte im Vorfeld der Ausstellung im Kunstverein vergeblich versucht, die Forte Gruppe im Zuge des Rahmenprogramms zu erreichen: „Wir wollten die Performance ursprünglich in den nicht fertiggestellten Wohnungen machen.“ Nun jedoch wird Latefa Wiersch Interessierte in den Räumen des Kunstvereins am 12. April an die „Schwelle zwischen Tod und Leben“ führen, die laut Seubert die Puppen der Künstlerin ausmachen. Denn die Kreaturen, die sich unterhalb des Hannibal verteilen, sind ebenso von außen bewegbar wie selbst unbeweglich.
So findet sich auch die kleine Latefa mit den „realisierten Träumen der Kindheit“, auf einem Kindermotorrad sitzend und im Superhelden-Dress. In Wirklichkeit, berichtet Wiersch, seien es meist Jungen „mit einer blonden Vokuhila“ gewesen, „die die Stars auf dem Spielplatz vor dem Hannibal waren“.
Soziale und kulturelle Marker
Ebenso wie selbst findet sich auch der Großvater der Künstlerin vor dem Hochhaus stehend, und von einem der oberen Balkone blickt ihm eine Puppe nach dem Vorbild El Hedi ben Salems entgegen, des Hauptdarstellers im Spielfilm „Angst essen Seele auf“, der den Gastarbeiter Ali spielt. Dieser erinnerte die Künstlerin an ihren Vater, der, aus Nordafrika nach Dortmund gekommen, ebenfalls zunächst bei Hoesch arbeitete. Wiersch zeigt ihre Puppe hier in einem Pullover mit überdimensioniertem Nike-Symbol und setzt mit diesem „Statussymbol“ einen der vielen „sozialen und kulturellen Marker“, die sich laut Kuratorin Seubert in der Ausstellung immer wieder finden.
Latefa Wierschs Vater hingegen erreichte bald sein Ziel und schloss ein Studium ab, und auch seine Tochter studierte in Bielefeld, Berlin und Bern. Der Hannibal II ist für beide ebenso wie für alle, die ihn vor sieben Jahren verlassen mussten, vor allem zu einer Erinnerung geworden.
Das Rahmenprogramm der Ausstellung
Sa, 18. Januar, 18 Uhr: Eröffnung, ab 21 Uhr DJ Set Razzmatazz
Do, 23. Januar, 18 Uhr: Kuratorinnenführung
Do, 20. Februar, 19 Uhr: Filmabend #26, Viola Shafik: Ali im Paradies (My Name Is Not Ali), Kino im U
Sa, 22. März, 14 – 16 Uhr: Erzählspaziergang
Sa, 12. April, 17 und 18 Uhr: Performance, Latefa Wiersch – Hannibal
So, 13. April: Letzter Ausstellungstag