Wie passen eine Slapstick-Komödie aus den Zwanzigerjahren und ein so imposantes Instrument wie die Orgel der Reinoldikirche zusammen? Am gestrigen Eröffnungstag des Internationalen Orgelzyklus stellte sich heraus: Hervorragend. Improvisierend untermalte Torsten Wille den Stummfilm „Safety Last!“ und ließ das Publikum so in Zusammenarbeit mit Schauspieler und Regisseur Harold Lloyd Tränen lachen. Denn ja, auch im Jahr 2024 zieht der Witz, den Lloyd vor über 100 Jahren auf die Leinwand brachte.
Safety Last! und die Orgel
Um für seine Verlobte Mildred eine gute Partie zu werden, geht Harold in die Stadt, mit dem Plan, die Geliebte nachzuholen, wenn er nur genug Geld zusammengebracht hat. Jedoch findet er lediglich eine Anstellung als Verkäufer im Kaufhaus, mit dem er sich eher über Wasser hält als Reichtum scheffelt. Gleichzeitig ist Harolds tägliche Arbeit alles andere als frei von Stress – und hier bekommt Willes Orgelspiel eine ganz eigene Rolle. Scheinbar zu lang gezogene Töne zeichnen Harolds Anstrengung nach, als eine anspruchsvolle Kundin alle Stoffe zu sehen wünscht, die im Angebot sind. Sobald diese das Kaufhaus verlassen hat, befreit sich die Orgel und begleitet Harold lustig-schnell dabei, wie er all die Stoffbahnen ungeduldig zurück ins Regal räumt.
In seinen Briefen zeichnet Harold für Mildred jedoch ein anderes Bild. Intensive, gefühlvolle bis leise-hüpfende Töne umgeben die junge Frau bei der Lektüre. In der Überzeugung, mit einem erfolgreichen Mann verlobt zu sein, reist sie ihm bald nach, und Harold tut alles, um das Bild, das sie von ihm hat, aufrechtzuerhalten. Als er die Geschäftsführung des Kaufhauses darüber sprechen hört, dass sie 1.000 Dollar für eine Idee bezahlen wolle, die mehr Kundschaft ins Kaufhaus brächte, ruft Harold einen Freund an, der sich bereits in der Vergangenheit – illegalerweise – durch Fassadenkletterei hervorgetan hat. Er soll das Kaufhaus hinaufklettern, um Aufmerksamkeit zu erregen und die Presse dazu bringen, zu berichten. Mit diesem Plan in der Hinterhand verspricht er Mildred: „Liebling, Träume werden noch wahr. Wir werden morgen heiraten.“ Hier scheint Wille über die Orgel eine persönliche Interpretation der Situation einzubringen, denn das hoffnungsvolle Thema, das die Versprechungen begleitet, wiederholt sich mehrfach, wird vielleicht etwas zu imposant, überfordernd?
Doch viel Zeit hat Harold nicht, sich mit seinen Zukunftsängsten auseinanderzusetzen. Ein Polizist vor Ort erkennt den Freund am Tag der angekündigten Aktion, sodass dieser auf der Flucht keine Gelegenheit findet, die Kletterpartie zu übernehmen. Also muss Harold selbst für seinen Plan herhalten. Dabei lässt Wille das Bad der Gefühle, in dem sich Harold befindet, durch das Kirchenschiff der Reinoldikirche klingen. Immer wieder ist die Gefahr des Absturzes überdeutlich zu hören. Als Harold sich bereits weit oben befindet und einen Weg über einen stuckbesetzen Vorsprung sucht, verändert sich die Bedrohung allmählich, wird dunkler und tiefer in ihrer Ruhe. Jeder Fehltritt würde jetzt zum Tod führen.
Doch bald, als Harold auf dem Dach angekommen ist, gleitet das Dunkle sanft über in träumerische Liebestöne, denn Mildred erwartet ihren Bräutigam samt Schleier über den Dächern der großen Stadt, während einzelne Stimmen aus dem Publikum in der Reinoldikirche erahnen lassen, dass ihnen gleich die Luft wegbleibt – vor Lachen. Trotz der verhältnismäßig kleinen Gruppe aus Zuhörenden brandet Wille ein Applaus entgegen, der so lange anhält, wie es nur angemessen möglich ist.
Der Orgelzyklus und das weitere Programm
Wer noch mehr Orgelmusik hören möchte, bekommt im Rahmen des Orgelzyklus an den kommenden drei Sonntagen jeweils um 18 Uhr Gelegenheit dazu. Auf ein Konzert mit dem Kölner Léon Berben am 14. April folgt am 21. April Holger Gehring aus Dresden. Den Abschluss des Orgelzyklus macht am 28. April Katelyn Emerson aus den USA.
Jedoch auch im Anschluss setzt sich das Musikprogramm in der Reinoldikirche fort. So ist am 15. Mai das Vokalensemble „Sei colori“ mit Werken von Åhlén, de Klerk, Chilcott Gjeilo und anderen zu hören. Am 8. Juni folgt dann ab 11 Uhr das KlangVokal Musikfestival.