Die Bildende Kunst und die Zahnheilkunde haben eines gemeinsam: Beide erfordern feinmotorisches Geschick. Nicht umsonst zeigt sich Golnaz Rezaeis Laborleiterin an der Uni Mainz immer wieder erstaunt über die Ähnlichkeit, die Rezaeis Zahnmodelle aus Wachs mit natürlichen Zähnen aufweisen. Denn ihre Studentin ist nicht nur angehende Zahnärztin, sondern auch Künstlerin. Innerhalb weniger Minuten portraitierte sie am Samstag Interessierte am Raum für Kunst auf Zeit.
Bereits mit sieben Jahren zeichnete Rezaei ihr Gesicht vor dem Spiegel. „Das ist so ähnlich, dass ich nicht glaube, dass das ein kleines Kind gemacht hat“, staunten ihre Verwandten. Laut Rezaei war es ihre Leidenschaft, die ihren Zeichnungen diese Qualität verlieh. „Ich hatte eine Liebe“, sagt sie. Dieser Liebe ging sie bald nach, indem sie über mehrere Jahre zwei bis dreimal in der Woche einen „Meister“ besuchte und von ihm lernte. Gleichzeitig studierte sie iranische Literatur und Sprache. Und dennoch: „Ich habe mich immer als eine Malerin und Zeichnerin gesehen.“ Bald begann sie, auf ihren regelmäßigen Zugfahrten heimlich schlafende Menschen zu portraitieren. Immer und überall hatte sie einen Bleistift in der Hand – oder auch Aquarell-Farben, Buntstifte, Kreide oder Ölfarben.
Aktivist*innen im Portrait
„Ich möchte alles, was meine Augen sehen, zeichnen“, erzählt Rezaei. Doch wenn sie auf ihrem Handy durch ihre Bilder scrollt, fallen zwei Themen besonders auf: Familie und Freunde – und iranische Aktivist*innen. Denn als Rezaei im Jahr 2015 – ihren Magister in der Tasche – den Iran verließ, hatte sie ihre Gründe. „Mein Heimatland ist wirklich schön“, findet sie, aber das diktatorische Regime habe sie nicht mehr ertragen. Etwas länger bleibt sie bei dem Portrait einer Frau hängen, das sie gezeichnet hat. Es zeigt eine iranische Frau, die eine langjährige Haftstrafe zu erwarten hat, weil sie sich weigerte, ein Kopftuch zu tragen.
Die Aktivistin hatte bisher keine Gelegenheit, sich zu ihrem Portrait zu äußern. Doch spricht Rezaei mit ihren Modellen, ist die Reaktion stets von Erstaunen geprägt. „Sogar meine Gefühle hast du gezeigt“, bekommt sie nicht selten zu hören. Auch Pia Onnertz, die sich am Samstag von Rezaei zeichnen ließ, reagierte überrascht – und freute sich gleichzeitig sehr über das Bild, das Rezaei ihr entgegenhielt.
Neuer Raum für Kunst auf Zeit gesucht
Das Portraitangebot stellte bereits die vierte coronakonforme Aktion am Raum für Kunst auf Zeit dar. Zuvor hatten sowohl Helga Hoicke als auch Jochen Pieper sich durch das Schaufenster an der Harkortstraße bei ihrer Arbeit auf die Finger schauen lassen. Im Februar dann gab Christiane Köhne ein Konzert auf der Harfe, deren Klänge aus dem Innern auf die Straße übertragen wurden. Auch Rezaei saß mit Bleistift und Klemmbrett im Raum für Kunst auf Zeit, während ihre Kundschaft auf einem Stuhl auf der anderen Seite der geschlossenen Glastür Platz nahm.
Nach dem ursprünglichen Ladenlokal in der Singerhoffstraße müssen die Kunstschaffenden Ende April jedoch auch diesen Raum für Kunst auf Zeit verlassen, da hier Anfang Mai eine Optikerin einziehen wird. Aber „wir wollen schon dran bleiben“, erzählt Mitorganisatorin Heike Onnertz. Und auch ihre Kollegin Köhne hofft auf einen Anruf weiterer Eigentümer*innen und die Bitte, ein weiteres leerstehendes Ladenlokal schön zu machen.