„Wenn man mit offenen Augen durch diese Stadt geht“, sieht man die Obdachlosigkeit, weiß Sozialdezernentin Birgit Zoerner. Doch nicht alle, die betteln oder Flaschen sammeln, würden bürokratisch betrachtet durch das soziale Netz fallen, erzählt Niels Back als Geschäftsführer aus dem Alltag seiner Kolleg:innen aus der diakonischen Wohnungslosenhilfe. Viele der Betroffenen hätten durchaus Anspruch auf Transferleistungen, „haben aber die Hoffnung aufgegeben“. Einigen fehlten im „täglichen Überlebenskampf“ die „persönlichen Ressourcen“ Hilfen aufzusuchen oder zu beantragen oder aber auch schlicht eine Postadresse. Rund 700 Menschen bekommen ihre Post bereits in das neue Wichern-Wohnungslosenzentrum, das die Diakonie am Freitagvormittag offiziell eröffnete.
Die Wohnungslosigkeit in Dortmund steigt
„Mindestens 500, vielleicht sogar 600 Menschen leben in Dortmund auf der Straße“, gab Diakonie-Geschäftsführer Back die Ergebnisse einer Studie der Gesellschaft für innovative Sozialforschung aus dem vergangenen Jahr wieder – Tendenz steigend. Zählte die Diakonie vor zehn Jahren noch rund 1.200 Beratungskontakte pro Jahr, so waren es in 2022 knapp 1.900. Einen wesentlichen Grund hierfür sieht Back in der schwindenden Zahl an Sozialwohnungen. Über die letzten 30 Jahre, so der Geschäftsführer, habe NRW rund eine Million Sozialwohnungen verloren. Vor diesem Hintergrund tut die Diakonie offenbar, was sie kann. Gut 260 Menschen begleitete sie im vergangenen Jahr in eine eigene Wohnung, gut 60 konnte sie „zumindest zu einem Dach über dem Kopf verhelfen“ und gut 430 Beratungen führten zu einem eigenen Einkommen, eine Zahl, auf die Back besonderen Wert legt, da der Nachweis über ein regelmäßiges Einkommen häufig ein „KO-Kriterium“ für den Abschluss eines Mietvertrages darstelle.
„In Ruhe seine Dinge erledigen“: Vom Kaffee bis zum Bürgergeld
So komplex sich diese Zusammenhänge darstellen, so konkret sind aber auch die täglichen Bedürfnisse des Menschen. Aus diesem Grund hat die Diakonie nun ihre Zentrale Beratungsstelle für wohnungslose Menschen (ZBS) mit einem Waschcafé, einem Ruheraum, einer Suppenküche und medizinischen Untersuchungsräumen in der Stollenstraße gebündelt, mit einem großen „Wohnzimmer“, PC-Arbeitsplätzen, WLAN und Wohnküche im Zentrum. Es „war uns wichtig, einen Ort zu schaffen, an dem man sich angenommen fühlt, einen Ort der Achtung und Würde, an dem man in Ruhe seine Dinge erledigen kann, in angenehmer Atmosphäre, in Polstern, auf Teppichen, mit einer Bibliothek wie zu Hause, mit einem Wohnzimmer, wenn auch nur auf Zeit, das man bedingungslos nutzen kann“, betonte Diakonie-Geschäftsführerin Uta Schütte-Haermeyer. Dazu gehöre ihrer Ansicht nach auch, sich gegen gebrauchte Möbel und „abwaschbare“ Oberflächen zu entscheiden: „Das einzig Alte hier im Raum ist der Kamin. Und das ist auch gut so.“ Diesen Gedanken entsprechend haben Innenraum-Designer Andreas Georg Hanke sowie Adolf Winkelmann und Christiane Schaefer-Winkelmann, die übrigens auch die Bibliothek kuratiert hat, das Wohnzimmer entworfen und ein Fundraising-Projekt auf die Beine gestellt, sodass die Einrichtung sämtlich aus Spenden finanziert werden konnte.
In das Wohnzimmer integriert ist auch die Küche, die Wohnungslosen zum Kochen zur Verfügung steht, sowie ein Kühlschrank mit individuellen Fächern. „Letztens hat hier einer zum Frühstück Spiegeleier gebraten: Das ist hier möglich“, freut sich Geschäftsführerin Schütte-Haermeyer darüber, wie die Menschen das Angebot des Tagesaufenthalts innerhalb des Wichern Wohnungslosenzentrums bereits seit Jahresbeginn annehmen. Den „gesamten Raum“, so Timo Stascheit als Leiter des Wohnungslosenzentrums, habe man „so gestaltet, dass alles frei zugänglich ist“, um weitere Hemmnisse abzubauen, die beim Um-Hilfe-Bitten entstehen. Vielmehr kann, wer sich hier aufhält, die Herdplatte ebenso selbständig nutzen wie den Wasserspender und die Kaffeemaschine.
Das Waschcafé „Saubere Sache“
Außer dem Essen und Trinken ist auch das Schlafen ein grundlegendes Bedürfnis, das bei Wohnungslosigkeit mit fundamentalen Hinternissen verbunden ist, weshalb das neue Zentrum auch einen „Ruheraum mit richtigen Betten“ vorhält, so Diakonie-Geschäftsführer Back. Wer Wertsachen mit sich führt, kann diese vor der Nutzung desselben in einem der Schließfächer unterbringen und das Handy an einer abschließbaren Ladestation laden. Schmutzige Kleidung hingegen lässt sich im Waschcafé waschen und trocknen oder auch in der Kleiderkammer austauschen. Um dieses Angebot umsetzen, mussten besonders viele Hürden überwunden werden, wie Diakonie-Geschäftsführerin Schütte-Haermeyer berichtete: „Das ‚Waschcafé Saubere Sache‘, das lange in der Schublade lag und mehrfach an Finanzierungsfragen gescheitert ist, konnte durch einen aufmerksamen Politiker, der sich dann traute, es doch noch mal in die Haushaltsberatungen einzubringen – wir hatten die Hoffnung schon fast aufgegeben – zum Erfolg geführt werden. Eigentlich müsste das Waschcafé Hans-Goerg-Schwinn-Waschcafé heißen.“
Dort finden nun auch die Mütter mit ihren Kindern, die in den umliegenden Wohnungen so beengt leben, dass sie „keinen ausreichenden Zugang zu sanitären Anlagen“ haben, wie Diakonie-Geschäftsführer Back formulierte, eine Möglichkeit, den Ansprüchen der Hygiene gerecht zu werden. Vor allem aus Rumänien und Bulgarien, aber auch aus anderen Teilen Südosteuropas kommend, haben sie „keinen Anspruch auf Sozialleistungen und damit kaum Zugang zu dem Hilfesystem“, so Sozialdezernentin Zoerner. Auch für diese Menschen handele es sich bei dem neuen Wohnungslosenzentrum um ein wertvolles Angebot, aber auch für alle anderen: „Für die gesamte Stadtgesellschaft ist heute ein guter Tag, denn Obdach- und Wohnungslose gehören zu unserer Stadtgesellschaft.“ So übernimmt die Diakonie in der Stollenstraße einen Teil der Verantwortung, die alle Schultern gemeinsam tragen sollten.