An der Wellinghofer Straße steht ein Kiosk. Inzwischen ist das Gebäude „ziemlich genau 100 Jahre alt“, erzählt Michael Wienand, der den Kiosk noch gut vor Augen hat, wie er vor der Schließung vor zwei Jahren aussah. „Vor Augen“ heißt hier so einigermaßen: an der Wand seiner Hörder Wohnung. Denn Wienand hat sich den Kiosk zum Vorbild genommen, um eines seiner dreidimensionalen Bilder nach dem Prinzip Bühnenbild zu erschaffen. Aber wer nun sagt: „Den Kiosk kenne ich“, bekommt von Wienand wohl zu hören: „Kann gar nicht sein, hab’ ich erfunden.“ Denn die Häuser im Hintergrund gibt es so nicht und überhaupt: Es geht ihm nicht darum, Gesehenes originalgetreu abzubilden, sondern darum, über ein Wie-es-sein-könnte „Ruhrgebietsgeschichte zu erzählen“.
Kneipen und Klischees
Dabei arbeitet er gern mit Klischees wie „Oppas Keller“ und „dass die Männer immer mit ihrem Krempel in den Keller müssen“, Männern, die mit einem Kissen im Fenster hängen, weil sie drinnen nicht mehr rauchen dürfen, Claudia-Graffiti und der „baulichen Hässlichkeit“ von „Freudenhäusern“ in Westfalen. Im Sommer befasste er sich mit der Darstellung einer Ruhrgebietskneipe, inspiriert vom Kluseneck: „Ich war da gestern, hab’ da Königsberger Klopse gegessen“. Keinesfalls fehlen dürfen für ihn der Spieleautomat und der Stehtisch zum Rauchen vor der Tür.
Doch anfangs stand Wienand bei diesem Thema vor einem Problem: „Wie zeige ich eine Kneipe gleichzeitig von außen und von innen?“ Da erinnerte er sich an Edward Hoppers „Nighthawks“. Warum nicht auch dem Kluseneck eine Fensterfront verpassen, zumal kleine Anspielungen auf kanonische Kunst durchaus zu Wienands Stilmitteln gehören? So findet sich zum Beispiel der Schirm aus Carl Spitzwegs armem Poeten als Detail in einer wienandschen Studierendenwohnung.
Die Siedlung Felicitas
„Immer, wenn die mal von hier berichten, ärgere ich mich“, sagt Wienand mit Blick auf die etablierten Zeitungen außerhalb des Ruhrgebiets. Dem stellt er seine Kunst entgegen, „woraus hervorgeht, dass das hier nicht alles grau ist, sondern dass das hier schön ist und schön bunt ist“. Dabei geht es ihm nicht „um so eine nostalgische Verklärung“, findet aber, dass Kunst „dazu gemacht ist, um Leuten eine Freude zu machen“.
Wenn auch nicht verklärt, findet sich diese Freude doch durchaus in der Ruhrgebiets-Nostalgie. So stellte Wienand im Sommer seine Darstellung der Siedlung Felicitas mit dem Titel „Bei Omma“ fertig. Denn dort, wo heute eine bewachsene Halde einen freien Blick über die Hochofenstraße hinweg auf die Industrie auf Phoenix-West bietet, standen bis in die siebziger Jahre 37 Gebäude mit insgesamt 157 Wohnungen. „Die haben sich ja damals ziemlich gekloppt um die Arbeitskräfte“, weshalb die Phoenix Aktiengesellschaft ab 1851 Wohnungen für ihre Mitarbeitenden vorhielt, erzählt Wienand, dessen „Uroppa“ dort beschäftigt war. Zusammen mit der Familie lebte dieser in der Siedlung, die ruhrgebietstypisch Privatleben mit Schwerindustrie kombinierte.
Auch in dieser Darstellung setzt Wienand auf Details, die er einzeln zeichnet und mit dem Skalpell ausschneidet. So platzierte er im Vordergrund die Zinkbadewanne im Garten, in der sich Kinder waschen und die Wienand mit kleinen Abstandhaltern befestigte, um seinen typisch dreidimensionalen Effekt zu erzielen. Daneben setzte er mit der Pinzette die Mutter, die die Wäsche aufhängt. Schmunzelnd erinnert sich Wienand an die „Konflikte, dass die Kinder nicht an die Wäsche packten mit ihren Dreckpfoten“. Weiter hinten vor der Haustür sitzt ein Mann und spielt Akkordeon und überall gibt es Tiere, Gemüse und Obst, denn die Gärten dienten der Selbstversorgung. Im Hintergrund erhebt sich die bekannte Industriekulisse.
Wienand selbst engagierte sich Ende der Siebziger in einer Bürgerinitiative, um den Rückbau der Siedlung Felicitas zu verhindern. Doch das Unternehmen scheiterte: „Denen haben sie ja die Häuser über’m Kopp abgerissen“. So hätten die Bewohner*innen der Siedlung am Frühstückstisch gesessen, als man sie mit den Worten überraschte: „Ihr müsst hier raus, ich hab’ den Bagger schon draußen stehen“, veranschaulicht Wienand, wie sehr die Menschen damals überrumpelt wurden. Inzwischen ist im wahrsten Sinne des Wortes Gras über die Sache gewachsen, doch in Wienands Bildern mit Tiefe gibt es sie noch, die bunten Szenen aus dem Ruhrgebiet.