„Und denk dran“, wird die siebenjährige Alicia erinnert, „aktuell müsst ihr die Jungens-Toilette nutzen“. Die Zweitklässlerin quittiert’s lediglich mit einem Stirnrunzeln, denn im Improvisieren sind sie mittlerweile schließlich gut geübt, die Eltern, die Kinder und auch das Kollegium der Huckarder Gilden-Grundschule. Und zwar nicht nur, weil Alicia und ihre Klassenkameradinnen die andere Klotür nehmen müssen. Sondern vor allem, weil sie allmorgendlich zu einer Schule aufbrechen, die knapp 5 km von ihrem eigentlichen Grundschulstandort entfernt liegt.
Erklärte das Schulamt doch zum Ende der Sommerferien rund die Hälfte des Schulgebäudes an der Friedrichsruher Straße aufgrund massiver Baumängel für nicht mehr nutzbar. Aufgefallen war dieser rein zufällig bei der Suche nach Feuchtigkeitsschäden.
Doch wie dem auch sei: Mehrere Klassen kurz vor dem Schulstart „obdachlos“, der komplette Verwaltungstrakt inkl. Sekretariat geschlossen: Schlimmer hätte es die Huckarder kaum treffen können. Bei der händeringenden Suche nach einem Ausweichquartier konnte das Schulamt dann glücklicherweise binnen kurzer Zeit einen Seitenflügel des Kirchlinder Bert-Brecht-Gymnasiums anbieten. Womit zwar immerhin – so kann nach einigen Wochen resümiert werden – der Super-GAU abgewendet wurde. Gleichzeitig aber verlangt die neue Sachlage allen Beteiligten eine Menge ab.
Das fängt schon damit an, dass die im „Exil“ unterrichteten Klassen – nämlich die komplette zweite Jahrgangsstufe sowie die „3a“ – aktuell aus Logistikgründen nur in Deutsch, Mathe und Sachkunde unterrichtet werden können. Wer sich nach den Kreativ-Fächern sehnt, kuckt ebenso in die Röhre wie die Sportskanonen. „Ich find’s doof hier“, seufzt der siebenjährige Felix dann auch. Was ihm fehle? Kurz überlegt, trauriger Gesichtsausdruck: „Mein Platz.“ Und außerdem, ist er sich mit seinem Klassenkamerad Adam einig, könne man sich in den BBG-Gängen „sehr gut verlaufen“. Adam blickt zwar insgesamt ein wenig optimistischer nach vorne und betont, die Lehrer würden ihre Sache „echt gut“ machen, aber auch er fremdelt mit der neuen Umgebung: „Es gibt hier einfach überhaupt kein Spielzeug und so.“
Die explizit gelobten Lehrer sehen sich ihrerseits einem Stresstest nach dem anderen ausgesetzt, müssen die unruhigen Kinder besänftigen, die traurigen bei Laune halten und zwischen den Standorten pendeln. Das mit dem Bus-Service ist sowieso noch eine ganz eigene Geschichte: An den ersten beiden Tagen fuhr das gebuchte Busunternehmen morgens irrtümlicherweise den Huckarder Bushof an, und dass mit fast einer Stunde Verspätung. Aber zumindest hier haben sich die Automatismen inzwischen anscheinend eingespielt, nachdem die Elternschaft sich ein paar Tage lang rein- bzw. ans Telefon hängte.
Angelegt ist das derzeitige Provisorium mit „Not-Beschulung“ auf ein halbes Jahr, wobei den Huckardern die Kirchlinder Räumlichkeiten grundsätzlich zwei Jahre lang zur Verfügung stünden. Soweit jedoch soll es keinesfalls kommen. Was Eltern und Nachwuchs außerdem vermeiden wollen, ist eine Rückkehr im Februar nächsten Jahres in einen dann not-sanierten, aber immer noch in Bau befindlichen Schultrakt. Denn auch die Instandsetzung der Gilden-Schule wird sich nach städtischer Einschätzung über mehrere Jahre ziehen: Bis dahin fände der Schulalltag dann also mindestens in einer Baustelle mit abgestützten Decken, schlimmerenfalls auch gelegentlich mit Lärmbeeinträchtigung statt.
War die Wut etwa der Elternpflegschaft auf die städt. Schulverwaltung bei früheren Krisen noch groß, attestiert man jetzt dem Amt durchaus, dass es sich um Lösungen bemüht. Gleichzeitig aber signalisierte das Amt, auch der Aufbau eines von den Eltern angestrebten Containerstandorts in unmittelbarer Schulnähe brauche viel Zeit: Aufgrund der nötigen Aufbereitung des Grundstücks mit Strom-, Wasser- und Gasleitungen steht auch hier eine Zeitspanne von anderthalb Jahren im Raum.
Das aber sind sie an der Gilden-Grundschule nicht bereit, widerspruchslos hinzunehmen, weshalb kürzlich (wie schon Anfang des Jahres aus anderem Grunde) ein Brandbrief an OB Thomas Westphal persönlich verfasst wurde. „Den Kindern muss das Gefühl von Sicherheit vermittelt werden“, betont die Pflegschaftsvorsitzende Linda Hertel-Wiechmann. Es könne nicht sein, dass die jetzigen Zweitklässler komplett in der Luft hingen, was den weiteren Verlauf ihrer Grundschulzeit anbelangt.
Derweil improvisiert man sich im BBG-Ausweichquartier durch den Alltag, mittlerweile hat man ja Übung. Widrigkeiten wie eine defekte Mädchen-Toilette jagen da kaum noch den Puls nach oben. Auch Alicia ist die Angelegenheit bei ihrer Rückkehr in die Klasse nicht mehr als hochgezogene Augenbrauen wert: Gibt Schlimmeres! Aber fast eine komplette Grundschulzeit im Exil oder auf einer Baustelle: Das wäre dann doch ein bisschen zu viel des „Guten“.