Das grelle Scheinwerferlicht fällt in Dortmund auf andere. Und das, obwohl man bei der Aufzählung von Janine Gallischs sportlichen Erfolgen ständig ungläubig nachfragen möchte. Von 16 nationalen Meistertiteln etwa kann ja selbst Schwarzgelb einstweilen nur träumen, die Lütgendortmunderin hingegen schnappte sie sich in einem einzigen Jahr.
Noch beeindruckender wirkt diese Bilanz, wenn man erfährt, dass sich die Sportlerin des TV Grüne Linde überhaupt erst seit knapp sechs Jahren ambitioniert ihrem Hobby widmet.
Erstmals in Wasser sprang Janine Gallisch für ihren Schwimmverein zwar bereits im Alter von fünf Jahren und sammelte die „klassischen“ Nachwuchs-Trophäen (Seepferdchen, Freischwimmer usw.) postwendend und mühelos ein. Sechs Jahre später jedoch zwang ihre fortschreitende erbliche Augenerkrankung die heute 41-Jährige dazu, dem Schwimmbecken schweren Herzens den Rücken zu kehren.
Dabei blieb es viele, viele Jahre, bis die eigenen – ebenfalls schwimmbegeisterten – Kinder 2017 in der Lütgendortmunderin den Wunsch weckten, es mit der „alten Liebe“ TV Grüne Linde doch noch einmal zu versuchen. Und das keineswegs, um sich einfach entspannt durchs Becken treiben zu lassen, denn ganz ohne Ehrgeiz – das gibt die 41-Jährige freimütig zu – geht’s bei ihr einfach nicht.
Zudem erwies sich ruck-zuck das große sportliche Potential der Rückkehrerin. Noch im gleichen Jahr nahm die Sportlerin, die mittlerweile nur noch über eine minimale Rest-Sehkraft verfügt, an ersten Wettkämpfen des Deutschen Behindertesportverbandes (DBS) teil. Schon 2019 folgte die erste DM-Teilnahme, und spätestens jetzt gab es kein Zurück mehr – bewies die Lütgendortmunderin doch sowohl auf regionaler wie nationaler Ebene, dass es sportlich nur die wenigsten mit ihr aufnehmen können. Die überreiche Ernte bei den letztjährigen Meisterschaften war der verdiente Lohn für inzwischen sechs wöchentliche Trainingseinheiten, bei denen Janine Gallisch im Hallenbad an der Volksgartenstraße regelmäßig drei bis vier Kilometer „abreißt“.
Ihren spektakulärsten Auftritt aber legte sie vor wenigen Wochen bei den NRW-Masters in Düsseldorf hin. Deren Ausrichter war nämlich nicht der DBS, sondern der DSV (Deutscher Schwimmverband). Janine Gallisch indes zeigte sich davon unbeeindruckt und ließ über 800 m Freistil die komplette „nicht-behinderte“ Schwimmelite hinter sich. Einen zweiten und zwei dritte Plätze über andere Strecken gab es „on top“, so dass sich die Lütgendortmunderin nach jedem ihrer Starts eine Medaille umhängen durfte: Eine geradezu unglaubliche Bilanz!
Der berechtigte Stolz auf das Geleistete ist der frischgebackenen Landesmeisterin anzumerken, doch von Sorglosigkeit ist sie weit entfernt: Ist es doch für eine Para-Sportlerin jenseits der 30 offenbar auch im Jahre 2023 immer noch eine Herkulesaufgabe, wahrgenommen und – vor allem – adäquat gefördert zu werden. Nur noch für wenige Wochen kommt Janine Gallisch in den Genuss von Fördergeldern, die derzeit ein privater Sponsor zur Verfügung stellt. Danach ist die Zukunft ungewiss, muss eine blinde Schwimmerin sowohl bei der Ausrüstung als auch hinsichtlich ihres Unterstützerteams einen weitaus größeren Aufwand betreiben als ihre sehende Sportskonkurrenz.
Die Probleme lösen könnte eine Aufnahme in den DBS-Bundeskader, doch trotz aller erbrachten Leistungsnachweise stellt man beim Bundesverband aktuell verblüffenderweise auf Durchzug. „Weil ich keine Nachwuchssportlerin bin“, schüttelt Janine Gallisch ungläubig mit dem Kopf, „will man dort anscheinend lieber gar nicht über mich nachdenken“. Ist „Aufgeben“ daher eine Option? „Niemals“, grinst die 41-Jährige. „Wer aufgibt, hat schon verloren!“ An Kampfgeist aber mangelt es ihr sicher nicht, zumal wenn es um „ihren“ Sport geht. Umso mehr verblüfft daher ein anderes Statement: „Eigentlich“, erklärt sie und muss dabei selbst lachen, „schwimme ich gar nicht so gerne“. Wie bitte?? Nein, als Witz sei das keineswegs gemeint, erläutert die mehrfache Deutsche Meisterin, denn immerhin sei es im Wasser meistens kalt und anstrengend. Andererseits aber ist das Schwimmbecken auch der Ort, an dem sie nichts eingrenzt. „Hier fühle ich mich wirklich frei“, resümiert die Lütgendortmunderin: Ein Gefühl, das ihr im Alltag leider viel zu oft verwehrt bleibt und für das sie daher keine Mühen scheut.
Umso mehr, weil momentan sogar noch der ganz große Coup in Reichweite zu sein scheint – denn über die 100 m-Brust-Strecke ist für die Schwimmerin selbst die Quali-Zeit für die nächsten Paralympics nicht in unerreichbarer Ferne! Dafür jedoch bedarf es – wie erwähnt – der Hilfe von außen. Diese auch anzunehmen musste Janine Gallisch erst nach und nach lernen, heute aber würde sie sich sehnlichst wünschen, dass Öffentlichkeit und Vereine sich behinderten Sportler:innen noch ein bisschen mehr öffnen und ihnen Möglichkeiten bieten. Häufig nämlich liegt da ihrer Meinung nach immer noch eine gewisse Schwellenangst vor. „Außerdem wissen viele Vereinen nicht“, ist sie sich sicher, „dass es Fördergelder für entsprechende Sportangebote gibt“.
Was sie selbst in ihre Ziele investieren kann, will sie in jedem Falle leisten. Und wenn das Scheinwerferlicht Lüdos 16fache Deutsche Meisterin doch noch findet, könnte es ja vielleicht doch noch etwas werden mit dem großen Traum „Paralympics“.