Kaum zu glauben, dass es im verträumten Hangeney noch in den 1980er Jahren zwei Metzgereien gab, ebenso viele Bäcker und – die Experten mögen es berichtigen – mindestens drei Kneipen. Heute ist der ehemaligen Bergarbeitersiedlung nichts mehr davon geblieben, und die regelmäßige Einkaufstour nach Marten oder Kirchlinde zu einer Selbstverständlichkeit geworden.
Freitagvormittag allerdings, wenn auf der Straße eine unverkennbare Glocke ertönt, wird dann doch alles wieder fast wie früher, denn dann steht „der Schwingeler“ vor der Tür. Und der ist nicht einfach ein Kartoffelhändler, sondern in Dortmunds Westen so etwas wie eine Institution. Im Grunde ist er sogar der jüngste Nachfahre einer Kartoffelhändler-„Dynastie“, darf dieser Begriff offiziell doch ab der vierten Generation zum Einsatz kommen: Eine Bedingung, welche die Schwingelers schon seit mehreren Jahrzehnten erfüllen.
Will man die Wurzeln des Familienunternehmens freilegen, muss man bis in die 1920er Jahre zurückreisen: Mit einem Pferdefuhrwerk ging Gründer Anton Schwingeler, Ur-Großvater des heutigen Chefs hinter dem Lenkrad, dereinst auf Tour. Selbstverständlich noch nicht durch die Hangeney-Siedlung, denn von der fehlte damals jede Spur. Gut zwanzig Jahre später dann startete Uropa Schwingeler vom Martener Stammsitz aus per Trecker plus Anhänger ins Umland. Als in den letzten Kriegsjahren das Kerngeschäft zum Erliegen kam – da, wie der heutige Besitzer schmunzelnd erklärt, Kartoffeln aus nachvollziehbarem Grunde mittlerweile „mehr geklaut als gekauft wurden“, hielt man sich im Hause Schwingeler mit Transportfahrten für die umliegenden Brauereien leidlich über Wasser.
Ein paar Jahre nach dem Krieg begannen für den Kartoffelbetrieb die goldenen Zeiten. „Die Zechenkumpel“, erläutert Familienspross Thomas Hense (!), „hatten alle Bezugsscheine für das Grundnahrungsmittel Kartoffeln. Abgerechnet hat mein Großvater dann direkt mit den Zechen – damals waren wir fast täglich in der Siedlung auf Achse.“
Bald wurde das Warenspektrum ausgeweitet: Andere Agrarprodukte wie Gemüsezwiebeln waren ohnehin im Programm, jetzt kamen auch noch Blumenerde, Torf oder Düngemittel hinzu – denn wer konnte, beackerte im Hangeney sein eigenes Gärtchen. Bis in die 1980er Jahre gab es zum Jahresende hin sogar einen „Feiertagsservice“, und etliche der Bewohner bezogen auch ihren Weihnachtsbaum „beim Schwingeler“.
Die goldenen Jahre erstreckten sich über mehrere Dekaden. Zuerst die Glocke, dann: „Kartoooffeln! Zeeehn Pfund eine Maaark!“ Vertraute Abläufe, lediglich die Preisangabe wurde selbstverständlich gelegentlich korrigiert. Und auch viele seiner heutigen Kunden, plaudert Thomas Hense, sind ihm ausgesprochen vertraut, da sie dem Familienbetrieb bereits seit Jahrzehnten die Treue halten. Er selbst hat das Kommando 1989 übernommen und wusste schon „seit ich mich als Kind bei jeder Gelegenheit auf dem Wagen oder im Kartoffellager herumgetrieben habe“, wo die berufliche Reise hingehen sollte. Und so trat er dann also vor über dreißig Jahren in die Fußstapfen seines Onkels, um die Tradition – wenn auch unter anderem Nachnamen – fortzuführen. Die allerdings früher noch mehr als heute auch eine ziemliche „Maloche“ sein konnte. „Bis in die 1990er-Jahre haben wir die 25kg-Säcke noch selbst in die Keller geschleppt“, gibt Thomas Hense zu bedenken, und bilanziert mit süß-saurem Lächeln: „Dein Immunsystem bleibt in diesem Beruf zwar immer gut in Form, aber dafür leiden deine Knochen!“ Gefragt ist Kirchlindes Kartoffelhändler dabei über die Jahre längst nicht nur als rollender Laden.
„Gerade für meine älteren Stammkunden“, sinniert Hense, „ist auch der Small-Talk extrem wichtig. Und 2020 gab es unter ihnen sogar manche, die über viele Wochen mit niemand anderem sprechen konnten.“ Auf „den Schwingeler“ indes war Verlass: „Die Zuverlässigkeit“, betont der, „ist mein allerwichtigstes Kapital. Die Menschen wissen quasi minutengenau, wann ich vor ihrer Tür stehen werde.“ Und schmunzelnd fügt er hinzu: „Wie oft hat man mich schon gefragt, warum jemand wie ich nicht bei der Bahn anfängt!“
Ein klein bisschen kürzertreten wird Thomas Hense, mittlerweile 58, in den nächsten Jahren. Dem Hangeney aber bleibt er erhalten – und auch seine gute alte, analoge Glocke geht nicht in Pension. „Abgesehen von der technischen Zuverlässigkeit wollen die Leute einfach keinen künstlichen Sound hören“, hat er erkannt. „Sie wollen, dass es bimmelt. Wie seit jeher.“ Na dann: Erst die Glocke, dann „Kartoooffeln! Zeeehn Pfund eine Maaark!“ Oder so ähnlich!