Es liest sich ein bisschen wie eine Idee von Stefan Raab – eine seiner besseren, wohlgemerkt. Und ist dann doch ein gutes Stück ernster gemeint als ein TV-Fun-Event mit mehr oder weniger prominentem Namen: Die Rede ist vom Schachboxen. Oh doch, das gibt’s wirklich, und ein Dortmunder ist hier im Schwergewicht seit wenigen Monaten das Maß der Dinge!
Herumgesprochen hat sich Refik Latifis ungewöhnliche Kombination von Talenten selbst in seiner Trainingshalle – dem Dortmunder Boxsport-Leistungszentrum an der Strobelallee – noch nicht flächendeckend. „Schach und Boxen?“, fragt ein Sportskamerad ungläubig. „Hast du dir da schon ‘nen Titel geholt??“ Um gleich darauf die Augen aufzureißen: „Weltmeister?? Im Ernst?“
Klar im Ernst! Dabei wurde das Interesse des Kirchlinders am Schachboxen erst vor rund zwei Jahren geweckt. Da hatte es ein Kollege zu den Weltmeisterschaften in der Türkei geschafft, und was dieser erzählte, machte den heute 34-Jährigen neugierig. Zumal Refik Latifis beide Sportarten aus seiner Sicht durchaus einige Parallelen aufweisen: „Am Brett und im Ring wird jeder Fehler sofort bestraft, und in beiden Fällen musst du auch taktisch immer voll auf der Höhe sein.“
Seiner neuen Mission widmete sich der Sportler des BSV 20 Mengede mit einer Menge Ehrgeiz. Fünf Box-Einheiten pro Woche zu je zwei Stunden, dazu noch pro Tag mehr als eine Stunde am Schachbrett umfasste sein Trainingsprogramm. Im Ring konnte er dabei bald auf kompetenteste Unterstützung zählen, nahm sich doch Christina Hammer des 34-Jährigen an. Dortmunds ehemalige Mittelgewichts-Weltmeisterin kümmerte sich nicht nur um Latifis Kampfkraft, sondern arbeitete auch einen milch- und weizenfreien Ernährungsplan aus, der den Boxer widerstandsfähiger und 10 kg leichter werden ließ. Von großer Wichtigkeit war es außerdem, gemeinsam mit dem Kirchlinder an dessen Atemtechnik zu feilen: Weil sich beim Schachboxen nämlich dreiminütige Einheiten am Brett mit dreiminütigen Sequenzen im Ring abwechseln – das ganze fünf Runden lang und bei lediglich 60 Sek. Verschnaufpause! Wer da die Boxhandschuhe auszieht, ohne voll fokussiert zu sein, bringt es nicht weit.
Latifi hingegen war bei den Weltmeisterschaften Ende 2023 im italienischen Rimini offenbar auf den Punkt topfit und setzte u. a. den russischen Turnierfavoriten am Brett drei Sekunden vor Partieende schachmatt. Am Ende der Wettkämpfe standen der umjubelte Weltmeistertitel und eine deutlich gesteigerte öffentliche Aufmerksamkeit. Mittlerweile bat auch für das ZDF den Faustkämpfer schon vors Mikro, und Anfang Februar durfte er sich bei einem FreeChess-Turnier an der Ostsee sogar mit dem aktuellen Ranglisten-Elften des Weltschachverbandes, dem Usbeken Nodirbek Absusattorov, messen.
Gut, dieses Duell dauerte, wie der Kirchlinder unumwunden zugibt, erwartungsgemäß nicht allzu lange. In seinem eigenen Sport allerdings nimmt Latifi es selbstverständlich trotzdem mit jedem auf.
Bis zum nächsten Schachbox-WM-Turnier hofft der Boxer, im privaten Leben Inhaber des Mengeder Kfz-Reparaturservice “Dellendrücker” (!), auf eine weiter ansteigende Popularität seiner exotischen Sportart – nicht zuletzt, weil auch hier die Hilfe von Sponsoren so einiges ändern könnte. „Die Szene zumindest wächst nach und nach“, stellt Refik Latifi zufrieden fest. Im optimalen Falle würde er selbst gerne nach erfolgreicher Titelverteidigung auf die Trainerbank wechseln – neben dem Boxring, versteht sich. „Zum Schach kehre ich dann irgendwann wieder zurück, wenn ich älter bin“, lacht er.
Einstweilen allerdings ist Latifis sportlicher Ehrgeiz noch keineswegs gestillt: Zumindest bis zur nächsten WM, die – der politischen Lage geschuldet – vermutlich doch nicht in Russland, sondern in Frankreich stattfinden wird, will er sein Top-Niveau halten, um das „Projekt Titelverteidigung“ mit voller Kraft anzugehen. Seine Trainerin zumindest traut dem aktuellen Champion einiges zu: „Refik hat“, fasst sie zusammen, „die Stärke, auch unter großem Stress immer noch sehr klar denken und präzise entscheiden zu können. Und abgesehen davon“, grinst sie, „ist auch sein Leberhaken ziemlich gefürchtet.“