Anfangs dachten alle Bewohner Huckardes, ja des gesamten Ruhrgebietes, im Januar 1923 noch, dass der Spuk schnell vorbei wäre. Dabei hatte man die Lage im gerade erst verlorenen Ersten Weltkrieg ebenso blauäugig und doch letztlich falsch eingeschätzt. In das Kriegsgeschehen an der Westfront war man 1914 mit viel Optimismus gegangen und hatte dann 1918 eine derbe und schwer zu verdauende Niederlage einstecken müssen.
Nachtreten
Und diese Niederlage sollte nun ein Nachspiel haben, denn die Siegermächte, vor allem Frankreich und Belgien, klagten, dass Deutschland seinen vertraglichen Verpflichtungen zu hohen Reparationsleistungen nicht nachkam. Um die Forderungen durchzusetzen, schickten sich Truppenverbände aus beiden Ländern nun an, das Ruhrgebiet zu besetzen. Man war an den reichen Kohlevorkommen und an der Lieferung hölzerner Telegraphenstangen interessiert. Die Siegermächte forderten 13,8 Mio. Tonnen Kohle und 200.000 Telegrafenmasten, eine unglaubliche und kaum zu befriedigende Last. Zuerst sollten 60.000 Soldaten den Forderungen Nachdruck verleihen, dann wurde das Kontingent sogar auf 100.000 Soldaten erhöht. Selbst die ehemaligen Alliierten waren mit dieser Methode nicht einverstanden – Großbritannien missbilligte das Vorgehen der Franzosen und die Vereinigten Staaten sprachen gar von „Gewaltpolitik“.
Weltpolitik vor Ort
Am 25. Januar 1923, so berichtet der Chronist Rudolf Bonna, rückten die französischen Soldaten, über Dorstfeld kommend, auch in Huckarde ein. Die Verantwortlichen in der Stadtverwaltung und der zum Abtransport der Reparationsgüter notwendigen Reichsbahn riefen die Bevölkerung zu Streiks und zivilem Ungehorsam auf. Die Reaktion der Besatzer folgte prompt und die Franzosen scheuten sich nicht, die Arbeiter, Beamten und ihre Vorgesetzten hart zu bestrafen und insgesamt fast 11 000 Dortmunder ins Exil zu schicken. Das traf auch Menschen in Huckarde und so musste auch der Huckarder Reichsbahnrat Ferdinand Spranke, als Technischer Leiter der Lokomotiv- und Waggonwerksatt der Dortmunder Union tätig, mit seiner Familie in die mecklenburgische Kleinstadt Bützow ins Exil gehen. Er teilte dieses Schicksal mit vielen Bürgern – und selbst dem Dortmunder Oberbürgermeister Ernst Eichhoff blieb der zwangsweise Gang in die Ferne nicht erspart.
Verteilt über den ganzen Ort
Einquartiert wurden die französischen Soldaten in der Mädchen-Schule an der Varziner Straße und für ihre Pferde schufen die Besatzer kurzerhand Stallungen in der Turnhalle der benachbarten Hansa-Schule an der Dückerstraße. Dort band man die Tiere an den Hallenwänden an und versuchte den empfindlichen Hallenboden durch das Aufbringen von Stroh notdürftig zu schützen. Die Offiziere suchten sich komfortablere Schlafquartiere etwa auf dem Hof von Schilling und bei der Gaststätte Hackeloer. Die Unterbringung (und wohl auch die Verpflegung) im Haus der Bäckerei und Zwieback-Fabrik Theis in der Rahmer Straße 35 brachte auch noch den Vorteil mit sich, dass es ein vorgebauter Erker zur Straßenseite hin möglich machte, die wichtige Hauptstraße leicht zu überblicken und damit zu kontrollieren.
Die zur Verpflegung der Truppe nötige Gulasch-Kanone brachte man in der Deele des Fachwerkhauses der Familie Hoppe in der Umgebung der Kirche unter. Dies brachte den sofortigen Protest des Urgroßvaters Hoppe mit sich, als dieser sich über den Qualm und die erhöhte Brandgefahr in dem alten Gebäude beklagte. Schlussendlich hatten die Franzosen ein Einsehen und schoben die Gulasch-Kanone ins Freie. Ortslyriker und vor allem Kinder begannen sofort Spottverse über den „Franzmann“ zu verfassen und reimten: „Oh Du Schangel (herablassende Bezeichnung für Franzosen und die assoziierten belgischen oder marokkanischen Verbände) weine nicht, die Kohlen kriegst Du nicht, nimm den Schnellzug und lass den Kohlenfeldzug.“
Die französischen Offiziere machten sich auch dadurch unbeliebt, dass sie (teilweise unter Benutzung ihrer Reitpeitschen) den Einheimischen und gerade den Kindern die Benutzung der Bürgersteige (die infolgedessen nicht mehr, wie lange Zeit üblich als „Trottoir“, sondern ausdrücklich als „Bürgersteige“ bezeichnet wurden) verbieten wollten.
Es dauerte noch bis zum Herbst 1924, bis die letzten Truppen Huckarde verließen und die Huckarder aus ihrem Exil zurückkehren konnten. Den Menschen in Deutschland blieb eine Hyper-Inflation und eine schwere Wirtschaftskriese als Folge des Einmarsches.